01. September 2025 – dpa

Granaten auf dem Meeresgrund

Gefährliche Altlast: «Spreng-Spaghetti» im «Matsch-Mikado»

Seit gut drei Wochen sind Taucher auf der Plattform «Baltic Lift» vor Boltenhagen im Einsatz. Sie bergen Weltkriegsmunition vom Meeresboden. Es geht nicht um Masse, sondern um Erkenntnisgewinn.

Die 12,8-Zentimeter-Granate bekommt auf neun Meter Wassertiefe das Label mit der Nummer «0158». Zuvor hat sie Dirk Schoenen behutsam in der Unterwasser-Sortierstation mit dem Hammer abgeklopft. Es ist nicht die erste Granate an dem Tag, die er von weiter unten aus 21,5 Metern Tiefe geborgen hat. In der Ostsee vor Boltenhagen läuft seit dem 8. August rund sechs Kilometer vor Küste ein Pilotprojekt zu Bergung von Altmunition, die dort seit 80 Jahren verrottet, verrostet und inzwischen Giftstoffe freisetzt.

«Das ist kein Routinejob. Man weiß nie, was man da unten zu fassen bekommt», sagte Schoene. Der 60-Jährige taucht schon seit 1986 und meldete sich im Februar freiwillig zu dem Einsatz. Erfahrung zählt, das weiß auch Kay-Uwe Huth, der auf der Bergungsplattform «Baltic Lift», die Räumstelle leitet. Das trifft vor allem bei schlechten Sichtbedingungen zu, die in der Ostsee bei schwacher Strömung herrschen. «Wenn Du blind arbeiten musst, dann musst Du Dich auf Deinen Tastsinn und die Finger verlassen. Und auf Deine Erfahrung», so Huth.

In dem Einsatzgebiet in der Wismarer Bucht gibt es die Besonderheit, dass die Munition vermutlich 1946 zusammen mit einer Schute - einem Transportkahn ohne Antrieb - versenkt wurde, weshalb der Großteil der Sprengmittel neben der bäuchlings nach oben liegenden Schute liegt. Mit der Bergungsaktion ist die Rostocker Firma Baltic Taucher beauftragt, der auch die Plattform gehört. Die Munition ist teils in dicken Schlamm- und Sedimentschichten versunken. Die Holzkisten sind verrottet und die Munition liegt einzeln oder verklumpt auf dem Boden.

«Das ist wie Matsch-Mikado», sagt Eyk-Uwe Pap, der mit seinem Bruder Jens Pap, das Unternehmen Baltic Taucherei- und
Bergungsbetrieb Rostock führt. «Wir arbeiten rund um die Uhr, Tag und Nacht.» Die Munition liege auf einem Haufen. Das mache die Arbeit schwierig. Überwiegend sind es Granaten, auch große mit dem Durchmesser von 12,8 Zentimeter. Es besteht weniger die Gefahr, dass die Munition explodiert, viele Granaten haben keine Zünder.

Den Behörden und Experten macht vor allem der Austritt des giftigen Sprengstoffes TNT ins Wasser Sorgen. «Rückstände finden sich bereits in Fischen. Es ist an der Zeit, etwas zu tun», so Robert Molitor, Leiter des Munitionsbergungsdienstes MV. In Nord- und Ostsee rotten etwa 1,6 Millionen Tonnen Weltkriegsmunition vor sich hin.

An Bord der «Baltic Lift» werden die Taucher mit einem Lift in die Tiefe abgelassen, wo sie unter Wasser etwa eine Stunde arbeiten. An einem Spezialhelm sind Kameras und Lampen installiert. Der Taucher steht in permanenten Funkkontakt zum «Dive Controll Container», wo Huth und Taucheinsatzleiter Jan Stelljes die Operation unter Wasser am Bildschirm verfolgen und die Funde penibel dokumentieren.

Die 30-tägige Aktion bei Großklützhöved vor Boltenhagen (Landkreis Rostock) ist Teil des Sofortprogramms Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee, für die insgesamt 100 Millionen Euro aus Bundesmitteln zur Verfügung stehen. Die Kosten für die Bergung vor Boltenhagen werden mit rund fünf Millionen Euro beziffert.

Bei den Arbeiten wurden seit dem 8. August bereits mehrere Tonnen Altmunition geborgen. Das teils stark verrottete Material wird in Spezialcontainer noch unter Wasser gelagert. Sobald entsprechende Genehmigungen abschließend vorlägen, könne die Munition an Land und nach Munster (Niedersachsen) zur Entsorgung gebracht werden, sagt Holger Hesse von Unternehmen Seascape, das das Projekt leitet.

Der Maschinenbauingenieur und Schiffbauexperte betont, dass es bei der Aktion, die im vergangenen Jahr ähnlich in der Lübecker Bucht lief, nicht so sehr um die Mengen an geborgener Munition geht. Es ist vielmehr der Erkenntnisgewinn von Nutzen. Welche Art von Munition liegt auf dem Meeresboden? Wie ist der Zustand der Kampfmittel und Sprengstoffe? Wie läuft der regulatorische Prozess für die Entsorgung? Alles Fragen, die wichtig sind für das Ziel, eine eigene schwimmende Plattform zur Munitionsbergung und Entsorgung zu entwickeln und zu bauen.

Die Ausschreibung für die Plattform läuft. Es gibt viele Bieter. Wenn alles glattläuft, soll der Auftrag im ersten Quartal 2026 vergeben werden und die Plattform 2027 fertig gebaut sein. Zunächst orientiere man sich dabei an der Ostsee, habe aber auch die Nordsee im Blick, sagte Hesse. Munitionsbergung in der Nordsee dürfte sich wegen Wind, Wellengang und Strömungsverhältnissen aber deutlich schwieriger gestalten. Die Plattform dürfte um die 70 Millionen Euro kosten, die aus dem Sofortprogramm des Bundes bestritten werden.

Das Neue und Besondere ist, dass die Munition dann direkt auf See entsorgt, das heißt zerlegt und verbrannt werden soll. Die Granaten, die vor Boltenhagen geborgen werden, enthalten Sprengstoff in Form langer Stäbchen, die teils offen auf dem schlammigen Meeresgrund oder im Inneren der durchrosteten Granatkapsel liegen. Dabei handelt es sich um explosives Treibladungspulver. Wegen der Stäbchen-Form spricht Hesse von «Spreng-Spaghetti».

Die Taucher sammeln die Munition, oder was davon übrig ist, per Hand auf und bringen sie in eine Sortierstation in etwa neun Meter Meerestiefe. Dort wird die Munition identifiziert und in Spezialkisten zwischengelagert. Aber nicht nur Munition schlummert auf dem Meeresboden. «Wir haben auch schon Stahlhelme, Gasmasken und Enfield-Karabiner gefunden», berichtet Taucher Schoenen.

Weitere Nachrichten aus Hamburg & Schleswig-Holstein

Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern

undefined
Audiothek